Mit Turbo-Landwirtschaft gegen die Hungersnot?

Der Ukraine-Krieg und die Folgen: Teil 3 unserer Artikelserie fragt, ob die drohende Hungerkrise ein Umdenken beim Thema Ernährung erfordert. Müssen wir jetzt produzieren, was die modernen, industriell geführten Agrarbetriebe hergeben? Also mehr Erträge durch mehr Agrarchemie und Gentechnik? Andreas Stehr sagt Nein. Denn das würde andere Probleme verschärfen ...

Stoffschweine symbolisieren Massentierhaltung

Stoffschweine symbolisieren Massentierhaltung

Die Ukraine und Russland spielen für die Welternährung eine extrem wichtige Rolle. Der Krieg in der Ukraine wird daher das Leben von Menschen rund um den Globus verändern. Ernteausfälle und blockierte Handelswege treiben Millionen Menschen neu oder tiefer in die Armut, weitere Hungersnöte sind programmiert. Was bedeutet das für die Produktion von Lebensmitteln? Müsste die Produktion von Lebensmitteln nicht um jeden Preis hochgefahren werden, zur Not auf Kosten des ökologischen Landbaus?

Eines vorab: Einfache Antworten und Wege aus der Krise gibt es nicht. Umso wichtiger, sich die Ausgangslage im Detail anzuschauen. Wer sich nur auf die Wahl zwischen ökologischen Anbaumethoden auf der einen und einer industrialisierten Landwirtschaft unter Einbezug von Gentechnik auf der anderen fixiert, übersieht wichtige Aspekte.

Den Blick weiten

Lediglich ein Drittel der Erdoberfläche, rund 149 Millionen Quadratkilometer, ist mit Land bedeckt. Agrarflächen bedeckten auf der Erde im Jahr 2019 insgesamt 48 Mio. Quadratkilometer. Davon wurden knapp 16 Mio. Quadratkilometer für den Anbau von Getreide und anderen Agrarprodukten genutzt; mit rund 32 Mio. Quadratkilometern dient der überwiegende Teil als Weidefläche.

Als Grundnahrungsmittel ist Getreide unverzichtbar. Mais, Reis und Weizen machen zusammen 51 Prozent der weltweiten direkten Kalorienaufnahme aus. Darüber hinaus wird Getreide sehr häufig als Futtermittel in der Tierzucht eingesetzt. Die russische Föderation ist mit über 17 Mio. Quadratkilometern der größte Flächenstaat der Welt und mit einem Anteil am Handel von 19,7 Prozent der wichtigste Exporteur von Weizen (19,7 % Anteil). Die Ukraine steht mit 8,5 % auf Platz 4.

Auch der Hunger tötet

Dass die Ukraine nun weitgehend als Lebensmittelexporteur ausfällt, hat katastrophale Auswirkungen. Neben den schrecklichen unmittelbaren Kriegshandlungen bahnt sich so eine weitere Tragödie an. Während aus europäischer Perspektive „nur“ deutliche Preissteigerungen für einige Produkte zu befürchten sind, sind die Konsequenzen in ärmeren Weltregionen für viele Menschen potenziell lebensbedrohlich und gefährden die Stabilität dieser Länder.

Es muss auch davon ausgegangen werden, dass Hunger, dadurch ausgelöste Migrationsbewegungen und erhoffte politische Destabilisierung Bestandteil der Militärstrategie sind. Ist es vor diesem Hintergrund sinnvoll, die ersten zaghaften Schritte in Richtung einer nachhaltigeren Landwirtschaft wieder zurückzudrehen, weil biologische Landwirtschaft nicht produktiv genug ist?

Auf EU-Ebene werden aktuell Diskussionen über die Nutzung von „Flächenreserven“ wie den designierten Blühstreifen sowie die Bedeutung von genmodifizierten Pflanzen geführt. Auch der Chef des Agrarunternehmens Syngenta forderte vor wenigen Wochen angesichts der Ernährungskrise eine Abkehr vom Biolandbau.

Turbo-Landwirtschaft schafft neue Probleme

Betrachtet man die Nahrungsmittelproduktion als isoliertes Problem, mögen diese Forderungen verständlich sein. Doch es gibt weitere Aspekte, wie das 2009 von Rockström veröffentlichte Konzept der sogenannten planetaren Belastungsgrenzen zeigt. Danach ist der Klimawandel zwar die bekannteste Belastungsgrenze, aber daneben gibt es Problemfelder, welche die ökologische Stabilität noch stärker bedrohen.

Vor allem der Verlust an Biodiversität (z.B. Insektensterben) und der Bodenqualität werden als äußerst gefährlich angesehen. Auch hier zeigt sich deutlich der Grundsatz „alles hängt mit allem zusammen“. Konkret interagieren die Faktoren miteinander wie beispielsweise der Klimawandel und die Versauerung der Ozeane. Hinzu kommt, dass die Zusammenhänge nicht linear sind. Während in der Vergangenheit rund 50 Prozent der menschengemachten Treibhausgase von den Ozeanen aufgenommen worden, scheint dieser Mechanismus nach Auffassung einiger Forscher ausgeschöpft zu sein. Angesichts der oben beschriebenen Konstellation wäre es wohl kontraproduktiv, die Ansätze eines strukturellen Umbaus des Ernährungssystems wieder zurückzudrehen.

Andere Lösungen in Betracht ziehen

Erfreulicherweise gibt es noch andere Handlungsmöglichkeiten, die zudem schneller umzusetzen und quantitativ bedeutsamer sind. Eine ist die deutliche Reduzierung von „NahrungsMüll“. Dieser Begriff ist bewusst so gewählt und unterstreicht, dass viel zu viel wertvolle Nahrung entwertet und so zu Müll gemacht wird. Nach Schätzungen wird rund ein Drittel der weltweiten landwirtschaftlichen Produktion nicht für die menschliche Ernährung verwertet. Ursachen sind:

1) Ästhetische Ansprüche der Konsumenten: In den Handel kommt nur Obst und Gemüse, dass perfekt aussieht.

2) Qualitätsmängel in der Lagerhaltung (Kühlmöglichkeiten etc.) bzw. beim Transport

3) Verschwendung auf dem Weg zum Verbraucher: Prominentes Beispiel sind Schlachttiere, die aufgrund gesundheitlicher Schäden bei der Massentierhaltung gar nicht in den Verkauf kommen.

4) Verschwendung beim Verbraucher aufgrund falscher Lagerung, unzureichender Planung und mitunter mangelnder Wertschätzung von Nahrungsmitteln.

Weniger Fleisch auf dem Teller könnte helfen

Aber nicht nur der Verlust von Lebensmitteln hat eine große Auswirkung. Auch veränderte Ess- und Konsumgewohnheiten spielen eine Rolle. Obwohl immer mehr Lebensmittel produziert werden, gerät das Ernährungssystem so unter Druck. Zurzeit wird von der weltweiten Getreideernte nach Schätzungen weniger als die Hälfte direkt zur menschlichen Ernährung genutzt. Der Rest landet unter anderem als Biokraftstoff in Tanks oder in Futtertrögen – auch, weil besonders in den wohlhabenden Ländern immer mehr Fleisch gegessen wird.

In einem jüngst erschienen Spezial von Spektrum der Wissenschaft wurde die landwirtschaftliche Tierhaltung mit über 14 Prozent der Treibhausemissionen, 40 Prozent der Land- und 70 Prozent der Süßwassernutzung in Verbindung gebracht. Wie das Hilfswerk „Brot für die Welt“ vorrechnet, wird für die Produktion von Fleisch im Schnitt die siebenfache Kalorienmenge an pflanzlicher Nahrung benötigt. Für Rindfleisch ist es sogar der Faktor 21. Weniger Fleisch auf dem Teller könnte also ein Weg sein, um die Ernährung der Menschheit sicherzustellen, ohne auf industrielle Landwirtschaft und Tierhaltung zu setzen.

Nicht unterschätzt werden darf in diesem Zusammenhang der unmittelbare Nutzen für die Gesundheit der Konsumenten in den von sogenannten Zivilisationskrankheiten geplagten westlichen Industrienationen. 2019 erschienen in „The lancet“, einer der ältesten und renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften, ein Vorschlag für die sogenannte „planetary health diet“.

Diese Ernährungsempfehlungen wollen eine Steigerung der individuellen Gesundheit mit einer ökologisch und sozial vertretbaren Ernährung der Weltbevölkerung verbinden. Aus deutscher Perspektive müsste der Konsum von Fleisch ungefähr halbiert werden, zugunsten eines verstärkten Konsums von Hülsenfrüchten, Nüssen, Gemüse und Obst.

Nicht zuletzt würde eine solche Umstellung eine Entlastung der zur Verfügung stehenden Ackerflächen ermöglichen. Insbesondere in der Renaturierung von Feuchtgebieten und dem Aufbau von Humusschichten auf den Ackerflächen sehen Studien einen kurzfristig nutzbaren Hebel zur Reduzierung des Ausstoßes an Treibhausgasen.

Einfache Antworten gibt es vielleicht nicht, aber Ansätze mit ausreichender Hebelwirkung dagegen schon. In der aktuellen Krise ausgerechnet umweltverträgliche Anbaumethoden zurückzudrängen, kann allerdings nicht der richtige Weg sein.

Andreas Stehr